Besonders - ein Ausschnitt aus dem Kapitel "Unser erster Monat mit dem Krebs - unser letzter Dezember (2016)

„Es ist ein ganz besonderes Kind – in jeder Hinsicht“ - hat der Kinderchirurg mit einem melancholischen Blick und einem bittersüßen Lächeln zu uns gesagt. 


Ein besonderes Kind, eine besonders seltene Hautkrebserkrankung, ein besonderer Weg, den wir gehen müssen...



 Wie sehr setzte ich in diesem Elend auf "das Besondere" und hoffte.. wie sehr ich hoffte, dass es besonders weiter geht. 


Und das tat es! Fast schon wie ein Wunder: Besonders guter Chefchirurg mit der gelungenen ersten OP, bei der der Hauttumor entfernt werden konnte, ohne dass die vorher prognostizierte Hauttransplantation notwendig sein wird.


Besonders große Narbe quer über ihren ganzen kleinen Kopf... die besonders gutverheilt.


Besonders schnelle Entlassung – 10 Tage besonders intensiver, schöner Zeit zuhause im Bangen und Warten. Und dann...


Besonders ernsthafte Diagnose – besonders bösartiger Hautkrebs mit Metastasen in den Lymphknoten, besonders seltene Mutation, die kaum erforscht ist und bei Kleinkindern nicht vorkommt. Besonders schlechte Heilungschancen. Besonders viele Fragezeichen bei allen besonders guten Experten...


Ab jetzt waren wir auf dieser besonders grausamen Seite der Welt, die keiner, der nicht selbst dorthin verdammt wurde, verstehen kann, nicht nur Gast, sondern ständiger Bewohner.


Besondere Spezialisten für die zweite, große OP - Besonders riskant, denn zu 99 % werden Gesichtsmuskeln verletzt werden, die für die Schließung des Augenlids und des Mundes zuständig sind, was Augenklappe, Schluck- und Sprachstörung, halbseitige Gesichtslähmung bedeutet.


Mit dieser Prognose bekam Lea am 27.12.2016  nun zum vierten Mal eine Vollnarkose und wir mussten sie wieder in die Arme des Anästhesisten geben, der mit ihr hinter der großen OP-Tür verschwand. Ich höre sie noch ganz leise wimmern: in fremden Armen, die verdammte Glastür zu, meine Hände leer, mein Herz voll, meine Kehle trocken, meine Stirn nass. Mit jedem Schritt, über den Gang mit dem hässlichen Linoleumboden, der weg führt vom OP-Bereich werden meine Hände leerer, mein ganzer Körper schwerer, mein Herz noch voller. 

Ich höre mein Kind wimmern, in fremden Armen.. ihr Wimmern wird mit jedem weiteren Schritt lauter - in meinen Ohren.


Das ganze Weihnachtsfest über hatte ich mir diesenTag ausgemalt, unzählige Gebete gesprochen, so kostbare Stunden mit meinem vollkommenen Kind genossen, ihre wunderschönen blauen, großen Augen angestarrt und ihre vollen süßen Lippen geküss - stets mit dem Gedanken, was nach dieser OP sein wird. Sich satt sehen, als ob man jemals genug bekommen könnte vom Anblick des eigenen Kindes.


Nun war er da, der besondere Tag. Und auch im letzten Moment noch wäre ich am liebsten mit Lea auf dem Arm weggerannt, bis zum Mond. Ich würde nicht müde werden, sie zu tragen, wegzutragen von diesem Elend, vor dem was kommt, weg von dem Krebs und dem grausamen Leben auf dieser Welt.


Besonders lang hat es gedauert und ist besonders gut verlaufen. Nach über sieben Stunden kommt der Anruf aus dem OP – wie durch ein Wunder, konnte alles entfernt werden ohne Nervverletzungen. 

Ich sank im Arm meiner Mutter zusammen und meine Knie zitterten noch lange Zeit

 nach diesem Anruf. Noch nie vorher in meinem Leben habe ich so gern, meinen Eltern etwas mitgeteilt – zusammengesunken, auf dem Innenhof des Klinikums - ein besonderer Augenblick.


Fest davon überzeugt, einen „barmherzigen“ Gott auf unserer Seite zu haben, verbrachten wir Silvester im Krankenhaus mit so viel Zuversicht für das kommende Jahr, das ganz besonders werden wird für uns drei. 


Lea hat sich wieder mal besonders gut und schnell erholt und wir durften bald nach Hause - ungewöhnlich, besonders bald.


Überglücklich über das Geschaffte verbrachten wir Stunde für Stunde, Tag für Tag lachend, spielend, träumend und unglaublich beeindruckt und überwältigt von unserem besonderen Kind. 


Wie schnell wir in dieser Hölle gelernt hatten nur den nächsten Schritt so gut es ging zu meistern und ihn dann zu zelebrieren – von ihr haben wir es gelernt. Wichtig war immer nur der Moment, dass es ihr Moment für Moment gut ging. Wir feierten jedes einzelne Mal, wenn sie ohne Weinen eine der unzähligen Behandlungen über sich hat ergehen lassen und danach oder oft auch währenddessen lachen konnte. 

Lachen.. jetzt zählt, was jetzt ist - ohne dass der große, schwarze Schatten, der ÜBER uns liegt, uns das Licht, das BEI uns ist, verdunkelt.


Wir haben uns ganz eingelassen auf dieses Kind und es hat uns gelehrt. Und das hat uns überleben lassen.


Nach einer Woche erfuhren wir die letzten Untersuchungsergebnisse und was soll ich sagen, es war wieder ganz besonders: wider Erwarten konnte absolut keine Krebszelle mehr gefunden werden. Die vielen weiteren Lymphknoten, die bei der OP auch entnommen wurden, waren gesund. 


Besonders gute Nachrichten: Wir sollen uns freuen, feiern. Extrem engmaschige Nachsorge, aber keine Therapie notwendig - Lea ist krebsfrei! Sie darf wieder in die Kita, die sie vor der Krankheit langsam lieben gelernt hatte. Wir dürfen alle zusammen zurück in unser Leben?Jetzt kann alles verheilen, die Härchen können wachsen und wir beten so viel wir können, dass der Krebs nicht zurückkommt.


Konnte das sein? Dürfen wir die Hölle tatsächlich wieder verlassen?

Ich verspürte zum ersten Mal wieder die gleiche Dankbarkeit zum Leben wie am 13.08.2015 um 7:09 Uhr als ich dieses wunderschöne winzige Mädchen vom Schoß zu meiner Brust hochziehe und den kleinen warmen Körper spüre.


Und wieder klammere ich mich am Moment fest, an heute. Was in sechs Wochen ist, bei der ersten Nachsorgeuntersuchung, ist in sechs Wochen: Der Schatten ÜBER uns darf nicht das Licht, das ich IN den Armen und IM Herzen trage, verdunkeln…


Das Strahlen in den schönsten blauen Augen, die sich in meinen spiegeln, der helle Klang der süßen kindlichen Stimme, die mir nachplappert, das ganze Licht der Welt gebündelt in Leas herzlichem Wesen – ein besonderes Mädchen, ja, das ist sie..


- Besondere Seelen gehen nun mal keine einfachen Wege! - Ich lege mir alles zu Recht, damit es irgendeinen Sinn ergibt. 

Die Katastrophe, den Kampf, den Krebs hätte ich akzeptieren können. Ich merkte, wie ich mit Lea daran wachse... Auf eine ganz besondere Art...

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