Wahrnehmung Wenn Alle Sinne Versagen - Ein Ausschnitt Aus Dem Kapitel Über Die Letzten Minuten

Es war zwischen 20:34 und 20:36 Uhr. Ich schaute auf die rot leuchtende Anzeige der Digitaluhr, die auf dem Nachtkästchen stand - zwischen unzähligen Kinderbüchern, die sich nach und nach in den letzten drei Wochen mit den unzähligen Büchern von trauernden Eltern, vermischt hatten.



Lea atmet schwer und tief ein, begleitet von einem ungewöhnlichen Geräusch, das ihre kleine Brust durchströmt.. Wie schon die letzten 40 Minuten. Dann atmet sie langsam, behutsam, hauchend - fast, als würde sie es genießen - wieder aus.



Auch während dieser letzten 40 Minuten schon hatte es lang, und von Atemzug zu Atemzug immer länger gedauert bis ein nächster, schwerer folgte. Ihre viel zu dünn gewordenen Arme bekommen dabei jedes Mal eine erstaunliche Kraft. Mit der Einatmung hebt sie ganz ausschweifend und langsam erst den linken, dann den rechten Arm, wie in einem besonderen Tanz, bis beide Arme in der Luft über ihrem Köpfchen schweben. Die Händchen sind geöffnet, die Fingerchenl leicht eingerollt. Es sieht sehr ungewöhnlich, fast unnatürlich aus und ich bin überwältigt von diesem sonderbaren Anblick. Dann sinken die Arme wieder, ganz langsam zum Bauch, in die mir vertraute Stellung. Bis der nächste Atemzug kommt... Doch nun wurde es anders – leise, still, zu lang zu leise... oder doch nicht?Es sind doch nur Sekunden!? 


- Nein! Mein Blick wanderte wieder zu der Uhr, die nun zu meiner völligen Überraschung 20:36 anzeigt. Es sind zwei Minuten vergangen – kein neuer, schwerer Atemzug! Meine Hand lässt ihr kleines Händchen los und gleitet behutsam zum Herzen. Nichts, nichts, nichts ist zu spüren!

 „ Ich glaube, jetzt kommt nichts mehr!“ - sage ich zu meinem Mann. Die erste Träne überrollt mich, fühlt sich schwerer an als Blei, viel schwerer als alle schon geweinten. Die zweite folgt - ich weine, ich schreie, ich schluchze, ich heule, ich beiße mir auf die Lippen und ganz leise kommen die Worte „sie ist gestorben“ durch meinen trockenen Mund. Oder doch nicht? 

Ich starre auf die Brust und den Bauch meiner Tochter und sehe, wie sich diese heben. Ich sehe es wirklich! Meine Hand vorsichtig hingehalten, merke ich aber... nichts –

nichts, nichts, nichts. Nicht zu glauben, aber ich bin mir wirklich immer noch nicht sicher, was gerade passiert ist. Ob es wirklich passiert ist!?

Mein Verstand hat ausgesetzt. Genau um 20:36 Uhr hat mein Kopf mich verlassen,  mein Herz schlägt seltersamerwiese noch,  kann mir aber auch keine Richtung weisen, es hat ein zu großes Loch. Und meine Seele schweigt - auch sie scheint zu fliegen und verlässt mich, während ich so ohnmächtig, wie noch nie, im Zeitlupentempo diesen Augenblick erlebe. Er scheint mir ewig und brennt sich tief, ganz tief in mich hinein.

Und dann füllt er das Loch meines Herzens mit diesem Nichts, mit dem Nichtsspüren. Mein Verstand ist immer noch woanders, völlig weg, denn ich sehe immer wieder den Brustkorb sich ganz regelmäßig heben. Aber das tut er nicht!.. Währenddessen wird das Herzloch immer mehr gefüllt von diesen Sekunden, immer voller mit dem Nichts...

Ich machte den schönen, geblümten Wickelbody meiner Tochter auf, über den sie sich vor ein paar Tagen so gefreut hatte, um den Brustkorb deutlicher zu sehen… Wie zart und klein und schön sie ist, denke ich als erstes. Dann durchbohrt mich die Wahrnehmung – nichts, nichts, nichts! Es bewegt sich nichts! Der Verstand - er ist nun wieder da: es waren zwei Minuten und jetzt sind es schon fünf - natürlich bewegt sich nichts! 

Wieder weinen, schreien, schluchzen, heulen... aber nun auch noch mit einem allmählich wieder funktionierenden Verstand - das schmerzt noch mehr. Die Erkenntnis hat mein Herzloch gefüllt mit dem Nichts, hat sich ausgeweitet in mir wie der Nebel und ist bis zum Kopf durchgedrungen.


Simon und ich umarmen uns. 


 "Jetzt hat sie es geschafft.." , sage ich und wundere mich über meinen Gedanken und dass er zu Wort wurde durch den Mund einer scheinbar Fremden und dass er die Stille unseres Schlafzimmers stört..