Der Todestag - Ein Ausschnitt Aus Dem Kapitel Über Die Ersten Minuten Danach

.. So saßen wir zwei zusammen da, doch jeder für sich so einsam, wie niemals zuvor, vor dem verlassenen Nest. Das kleine Vögelchen breitete die Flügel aus, verabschiedete sich, konnte hören, wie Mama und Papa sagen „Flieg, flieg mein Kind, wenn du kannst“ ... und ist geflogen. Sie hat wie immer auf uns gehört. Sie hat es uns wieder so leicht gemacht, wie es nur gehen kann. In den tausenden sich vermischenden und abwechselnden Gefühlen entdeckte ich in diesen Minuten auch tiefe Dankbarkeit und Stolz, die nur ihr allein galten, die so ganz anders waren - losgelöst von der Welt, vom Schicksal, vom Leben und vom Tod. Ich konnte absolut alles ausblenden. Ich gab frei, ich ließ los - nein, nicht mein Kind - welche Mutter könnte schon ihr Kind los lassen?! Ich ließ die Welt los, ich ließ mein Denken, mein mir vertrautes Fühlen los und gab frei... einen Raum, der im selben Moment ausgefühlt wurde von aufsteigender, sich ausbreitender, vorher nie gekannter Liebe. Da war sonst nichts, absolut nichts. Nur diese ganz andere neue Liebe, mein Kind und ich. Nur dieser Moment, der dieser Liebe gewidmet war. Und nur diese Liebe, die eine neue Dimension bekommen hat, eine neue Dimension geöffnet hat, die genau diesem Moment gewidmet war. 

Vielleicht war das die Zeitlosigkeit, die Ewigkeit, der Zustand ohne Raum und Zeit, die Liebe, die nicht mehr irdisch ist - göttlich, himmlisch?! Wie hätte ich sonst in der ensetzlichsten Situation, in der sich eine Mutter befinden kann, etwas Schönes empfinden können?!

Und genau das sollte auch Lea merken, wissen, spüren, sehen.. Ich war mir ohne den geringsten Zweifel sicher, dass sie um uns weiß und auf welche Art auch immer, hört und sieht, was jetzt mit uns geschieht. 

Also sprechen wir zu ihr.. sagen ihr, sie hat das toll gemacht und dass sie jetzt endlich alles machen kann, was ihr gefällt und dass wir sehr sehr traurig sind aber sie sich keine Sorgen um uns machen braucht. 

Dabei reden wir abwechselnd in den Raum und zu ihrem Körper. Ich bin mir inzwischen, nach allem Geschehen, ganz sicher, dass Lea nicht mehr dieser Körper ist, der schneller als ich es mir je vorstellen konnte, kalt und kälter wurde. Aber ich sehe ihn an und sehe Lea, meine Lea. Das ist doch mein Mädchen! Die Augen sehen, was sie sehen. Die Sinne täuschen. Ich berühre sie und schließe die Augen kurz und weiß wieder, unerschütterlich, dass es nicht mehr sie ist...

Ich spreche wieder in den Raum, der vom  Kerzenlicht ausgefüllt ist. Simon macht ganz leise Musik an - Ludovico Einaudi - das hatten wir die letzten Wochen sehr oft gehört, während Lea auch tagsüber fast nur noch schlief. Dieselbe Musik soll sie begleiten, uns tragen..

Wir wollen es schön haben und ruhig und friedlich, kein Chaos, kein Geschrei, kein Notarzt. Noch einmal nur für uns sein, noch einmal Abschiednehmen... Mit- nehmen, Auf- nehmen, an-mich-nehmen...

Ich nehme den nur noch ein kleines bisschen warmen Körper zu mir und Simon macht die Kabel vom Katheter ab. Blut tropft auf meine Kleidung und das Bett, aber das erschreckt uns nicht, schon lange nicht mehr. Welch wertvolles Erinnerungsstück mein blutüberströmtes T-Shirt werden wird, ahne ich zu dem Zeitpunkt nicht im Geringsten. 

Das "Nehmen" fühlt sich sehr schnell falsch an. Ich merke deutlich,  dass meine Liebe, meine Umarmung hier nicht mehr ankommt.

Ich lege den ganz schwer gewordenen Körper zurück auf das Bett, das Simon inzwischen aufgeräumt hat. Es liegt jetzt nur noch Leas bunt gestreiftes Lieblingskissen für sie da, keine Tücher, keine Medikamente, keine Spuckschüsseln, keine Schläuche, keine Kabel. Ich hole Wasser, Leas Lieblingswaschlappen, der die Form einer Schnecke hat, die vorbereitete Kleidung, die sie an ihrem zweiten Geburtstag - vor nicht mal sieben Wochen - getragen hatte und mache zum letzten Mal das, was ich die letzten zwei Jahre jeden Tag machte. Ich wasche den Körper, sehr behutsam und langsam. Leas Papa hilft mir dabei, hält das Köpfchen hoch. Er zieht die Windel aus und zusammen, wie so oft, ziehen wir ihr eine frische an. Dann die orangefarbene, niedliche Unterhose, die sie aus mir unerklärlichen Gründen, am liebsten hatte. Dann eine lilafarbene Strumpfhose,  passend zu dem weißen Kleidchen mit lila und rosa Blümchen. Und natürlich eine Mütze, eine wunderschöne lila Strickmütze mit einem Satinblümchen. Sie passt nicht mehr richtig – die Schwellung, der Tumor ist riesig, hinter und unterhalb ihrem rechten Ohr, im ganzen Halsbereich.  

Wir ziehen das Mützchen an, auch wenn es nichts davon kaschiert. Wir legen Lea in ihr Bettchen, das neben dem großen Bett steht und schieben es etwas weg, damit wir uns auf den Fußboden davor setzen können - wir sitzen am Boden, zusammen, jeder für sich so einsam, wie niemals zuvor. 

Die Kuschelkatze Mizi, die so oft unentbehrlich war für das Einschlafen, dient jetzt dazu, die riesig gewordene Schwellung zu verdecken. Wir wollen den Anblick unseres Kindes aufsaugen, festhalten ein letztes Mal, wie es so schön im eigenen Bettchen, umgeben von Kuscheltieren und einem Blümchennestchen liegt. Wir wollen das, was ihren Körper und unsere Seelen so krank gemacht hatte, ein erstes Mal nicht mehr sehen müssen und im Moment nicht daran denken... Und es gelingt uns.... Es sieht wunderschön aus – Lea!!  hübsch im Kerzenschein, Mizi kuschelt sich an ihre rechte Seite, auf dem Nestchen links sitzen „die Maus“, Paul – der Singbär, der Supermaari - ein Maskottchen der Kinderkrebsstiftung, das Lea in der Klinik geschenkt bekommen hatte. Am Gitter des Bettchens hängen Bilder, die Lea bei dem letzten Krankenhausaufenthalt gemalt und mit Stickern beklebt hatte – wertvolle, so wertvolle, kostbare Erinnerungen - Dinge, die bleiben, die ich anfassen kann, die ich sehen kann, die überdauern. Aber....eben NUR Dinge sind...

Oben hängt das bunte Holzmobile, das Lea seit ihrer Geburt immer wieder auf eine neue Art für sich entdecktr. Zuerst ganz weit weg, da oben hängend, unerreichbar und faszinierend. Dann nahm es Konturen an, die einzelnen Farben wurden sichtbar, die einzelnen Tierfiguren erkennbar. Die Bewegung, die die Holztierchen machen, wenn Mama es anschubst. Der Moment, als die eigene, noch so kleine Hand, mit den Fingerkuppen endlich auch die Weite schafft... Und hinkommt, an die bunten Flugtiere. Der Tag, als das "Sich-Hoch-Ziehen" endlich gelingt und das Mobile auf einmal ganz nah vor der Nase herum tanzt. Das selbstbewusste Stehen am Gitter vom Bettchen und die Holztierchen kichernd beim Namen nennen können. Lachend darunter liegen, die Beine nach oben strecken und mit dem kleinen Zeh an eines der Tierchen hinkommen, sodass sich alle im Kreis drehen. Frech toben im Bettchen, das Mobile herunter reißen und die Figuren einzeln betrachten, Farben benennen, Geschichten erfinden. 

Liegen im Bettchen, nur schauen können, wie sich das Mobile dreht, lauschen auf die Geschichten, die Mamas traurige Stimme erzählt. Liegen im Bettchen, unter dem Mobile, den kleinen Luftwirbel im Gesicht spürend, in dem die Holztiere tanzen, mit geschlossenen Augen, mit müden Armen - jetzt stubst die Mama das Mobile wieder an. Wegdrehen von dem wilden Treiben, das die Holztierchen spielen, weil es zu sehr anstrengt, weil es zu sehr ablenkt von ihrer neuen Aufgabe, weil es zu sehr zurückholt von ihrem Weg, den sie bereits angetreten hat.

..781 Tage lang hat uns das bunte Holzmobile begleitet..

Jetzt stupse ich es nochmal an und es dreht sich – der Schmetterling in der Mitte fliegt…


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Kommentare: 3
  • #1

    Julia (Sonntag, 03 Oktober 2021 05:25)

    ♥️

  • #2

    Karuna (Sonntag, 03 Oktober 2021 08:54)

    Ich bin tief berührt und weine.....

  • #3

    Vanessa (Donnerstag, 30 Dezember 2021 10:34)

    Ich hab euch soeben gefunden und bin tief berührt von euch, von ihr von dir, liebe Mama. Flieg kleiner, großer Schmetterling ♡.