Die Trauerfeier - Ein Ausschnitt Aus Dem Kapitel Über Die Erste Zeit In Einem Neuen Leben

...Seltsam, denn gleich nach der todbringenden Nachricht in der Klinik wollte ich auf keinen Fall so eine „Feier“ und erst recht nicht, irgendwas dafür vorbereiten und schon gar nicht, dass dann ganz viele Menschen kommen. Aber das änderte sich sofort nach Leas Tod. Ich wollte vorbereiten. Ich wollte es noch einmal schön machen für sie. Ich wollte irgendetwas tun. Endlich irgendwas tun.
Wir wollten eine Baumbestattung und damit eine Einäscherung, das stand von Anfang an fest. Wie sollten wir es aber bei der Trauerfeier machen? Abschied war doch schon?! – für uns; aber nicht für die anderen. Und außerdem werde ich trotzdem weinen müssen, dachte ich. Auf keinen Fall wollte ich dann eine Urne beweinen und schon gar nicht, dass unsere Familien, die noch keinen Abschied hatten, das tun müssen. Diese Asche hat für mich nun gar nichts mehr mit Lea zu tun. In der Woche darauf werde tatsächlich noch nicht Mal wissen wollen, wann die Einäscherung statt findet und die Urnenbeisetzung, bei der nur mein Mann und ich anwesend sein werden, ist absolut unbedeutsam für uns. Das ist auch bis heute so geblieben. Ich weiß noch nicht einmal das genaue Datum.

Und genau das war Beweggrund für die Entscheidung zu einer Baumbestattung - ich wollte mich so schnell wie möglich von der Körperlichkeit lösen, von dem was vergangen und gestorben ist, um Platz zu schaffen für die Suche nach dem, was unsterblich ist. 

Ich wollte sie neu spüren lernen können, ich wollte diese neue Form, die sie jetzt hat, kennen lernen und das wäre mir sehr schwer gefallen an einem Grab, wo der kleine Körper meines Kindes vor mir unter der Erde liegt. Sehr oft kam mir der Gedanke, dass ich sicher anfangen würde zu graben... In dieser Erde...

Neben der Baumbestattung wird uns ermöglicht, die Trauerfeier am Sarg ausrichten, in einer recht schönen Aussegnungshalle, direkt am Friedhof. Beim ersten Betrachten des Eingangs fällt mir auf, dass dort kein Kreuz hängt, sondern eine Art Stern. Das finde ich sehr passend.


Eine Woche später, am Nachmittag des 09. Oktober fand die Trauerfeier statt. An diesem Tag wache ich früh auf, weiß überhaupt nicht, was ich eigentlich tun soll und der Zeiger unserer Wanduhr muss kaputt gegangen sein. Es tut sich nichts – Stillstand, an der Wanduhr und in mir. Ich will diese Feier nicht mehr, ich will alleine sein. Ich habe Angst, auch wenn ich nicht weiß wovor. Abschied war doch schon?! So viel, so oft.. gerade wird mir dieser allerletzte zu viel.

Draußen ist es grau und etwas regnerisch. Ich ziehe einen schwarzen Rock und eine geblühmte Bluse an, welche ich mir extra für den Anlass gekauft hatte und danach nie mehr anziehen werde. Es schien mir passend - schwarz, traurig aber eben auch mit rosa Blumen, so wie es Lea gefallen würde.
Ich pflücke zwei Wiesenblümchen im Garten - etwas von Zuhause will ich ihr noch mitgeben. Etwas, das sie mir so oft nach Hause mitgebracht hatte - Wiesenblümchen. Ich stecke sie in meine Handtasche und wir fahren los.
Als wir am Parkplatz vor dem Friedhof ankommen, sind unsere Eltern und einige andere Menschen bereits da. Ich beobachte alle wie in einem Film und will nicht austeigen. Vielleicht ist es nur ein Film und wenn ich nur lange genug sitzen bleibe,  muss ich in ihm keine Rolle spielen?! Jetzt weiß ich wieder, warum ich keine Trauerfeier  wollte.. und doch bin ich allen anderen einen Abschied schuldig. Aber auch mir nochmal? Auch ihr? Ach, um wen geht es hier eigentlich gerade? Ich habe keine Zeit um nachzudenken und steige aus unserem Auto.
Als ich die ersten Umarmungen bekomme, fangen meine Beine an zu zittern. Ich lasse mich kurz fallen in meine Trauer, in mein Mitleid, in unser Leid, in die Arme der anderen, in das Mitgefühl der anderen. Ich weiß, dass ich mich wieder fangen muss, einsammeln, was von mir übrig ist und es zusammen bauen für die nächste Stunde. Und gleichzeitig bekomme ich überhaupt keinen Boden unter den Füßen zu spüren, die immer nur weiter zittern.
Ich weiß nicht, was ich tun kann, ich weiß nicht woran ich mich festhalten soll, ich weiß nicht wohin mit mir.. und dann..  tue ich zum ersten Mal im Leben, was ich noch so oft tun werde - ich bitte mein Kind um Kraft. Zum ersten Mal im Leben bin ich angewiesen auf seine Hilfe. Jetzt ist sie die Große. Fast wie bei einem stillen Gebet, spreche ich innerlich zu ihr. Worte, in Gedanken verpackt, fließen aus mir, wie ein Wasserfall, kommen von ganz alleine - wie das Vaterunser. Seltsam... So oft hatte ich gebetet und jetzt begreife ich zum ersten Mal, dass DAS hier gerade ein echtes Gebet ist. Ich weiß um den Empfänger. Ich weiß, dass der Wasserfall nicht in ein Nichts stürzt. Und ich bekomme Antwort...

Die Knie sind noch weich, aber die Beine zittern nicht mehr. Ich kann einen Fuß vor den anderen setzten und gehe langsamen Schrittes durch das eiserne Friedhofstor hindurch einen Weg, der mir bald so vertraut sein wird, wie einst das Vaterunser.


Es regnet nicht mehr und ich warte sitzend auf einer Bank vor der Aussegnungshalle bis alles vorbereitet wird, vom Simon, meinen Eltern und den Friedhofsangestellten. Mit der engsten Familie und den Geschwistern meiner Eltern, die Lea ein letztes Mal sehen wollen, gehen wir herein. Der Sarg wird für sie und für unseren letzten Abschied geöffnet. Ich schaue aus der Ferne zu, ich will mich schützen. Doch beim ersten Blick, sehe ich eine unglaubliche Veränderung an diesem toten Körper, die mir zwar zunächst etwas unheimlich ist aber im nächsten Augenblick so viel Kraft und Bestätigung spendet: es sieht überhaupt nicht mehr nach Lea aus, weil es nicht mehr Lea ist. Ich muss kurz schmunzeln und bedanke mich in Gedanken bei ihr, dass sie auch jetzt für mich alles so leicht macht, wie es geht. 
Nicht mal das zurückgelassene Körperliche  blieb so wie war. Es hat Leas Gesicht verloren. Ich schaue nach oben zur Kuppel, ein paar Sonnenstrahlen schaffen es in den Raum.
Der Reihe nach treten alle an den Sarg und sprechen oder beten, berühren und weinen. Ich schaue zu und habe zu jedem einzelnen auch Mitleid. Ich bin gerührt und denke für einige Minuten an die Menschen, die ich sehe, en jeden einzelnen. Als ob ich nicht dazu gehöre, als ob ich doch nicht mitspiele in diesem furchtbar traurigen Film, als ob ich mit Lea zusammen aus der Luft das Geschehen beobachte.
Die erste Träne hier in diesem Raum fließt bei mir erst nachdem der Sarg geschlossen wird, alle anderen Trauergäste eintreten und der erste Ton der Geige ertönt. Die Gefühle und Gedanken von soeben sind ein wenig verflogen und ich bin in der Trauerfeier angekommen. Jetzt gib es kein Halten mehr. Ich weine um mein Kind, um mich, um uns, um die anderen, um unsere Zukunft, um unsere Vergangenheit die sich in Bildern auf der Leinwand spiegelt. Ich sehe zu den jeweiligen Menschen, die sich in den Bildern oder in den gesprochenen Worten in Leas Leben wiederfinden. Ich lausche auf die sanften Klänge der Harfe, die Lea immer wieder so gern gehört hat, wenn der Seelsorger in der Klinik oder bei uns zuhause für sie spielte. Vor mir liegt ein großen Herz aus Teelichtern, die wir alle gemeinsam angezündet haben. Der Sonnenstrahl aus der Kuppel hellt es noch mehr auf und mein Blick wandert ganz oft zwischen dem Schein der Kerzen und dem Licht in der Kuppel - da ist sie, die meine Gebete erhört. 

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Kommentare: 5
  • #1

    Julia (Montag, 11 Oktober 2021 00:07)

  • #2

    Maria (Sonntag, 09 Oktober 2022 22:17)

    Ich fühle deine Worte ❤️�

  • #3

    Karin (Sonntag, 09 Oktober 2022 22:52)

    Wundetschön! Ein Liebeslied!

  • #4

    Jana (Sonntag, 09 Oktober 2022 23:41)

    Traurigschön�❤

  • #5

    Kathleen (Sonntag, 09 Oktober 2022 23:45)

    Tieftraurig und wunderschön �