Der Krebs. Der Tod. Von Vorne

Meine Seifenblase ist geplatzt. Nichts ist um mich herum, außer der Allmächtige Tod. Er ist mein Jetzt. Aber ICH bin nicht im Jetzt. Ich kann mich ihm nicht widmen. Jeder Versuch, den Tod meines Kindes wirklich gegenwärtig werden zu lassen, mich auf das Fehlen und Vermissen einzulassen scheitert, weil ich immer noch gefangen bin in der Todesursache. Ich bin das letzte Jahr nicht mitgekommen, mit dem Krebs. Er war zu schnell. In nur elf Monaten drei große Operationen, Intensivstation, scheinbare Krebsfreiheit, erstes Rezidiv, Immuntherapie, nicht zugelassene Medikamente, Chemotherapie, mehr als zehn Vollnarkosen, scheinbare Heilung, zweites Rezidiv, letzte Versuche, hunderte Untersuchungen, tausende Piekser, Millionen Tränen, Billionen Sekunden, die mir entgleitet sind.


Der Tod meiner Tochter ist vor über drei Monaten in mein Haus eingezogen und ich sitze da, auf dem Fliesenboden des Flurs, vor dem Bürotisch, und lasse erst jetzt den Krebs einziehen. Um mich herum liegt viel weißes Papier mit schwarzen Buchstaben - Ärztebriefe, Rechnungen, Laborberichte, Untersuchungsergebnisse, ein Flyer vom örtlichen Kinderhospizdienst.. Ich lese vieles zum ersten Mal. Google Begriffe, die mich damals nicht interessiert hatten. Ich hatte mich nie um Statistiken, Quoten, Prozente, Verläufe, Vergleiche, Forschungsergebnisse gekümmert, sondern um MEIN KIND mit SEINER Krankheit, so wie sie gerade war. Ich hatte stets einen sehr hilfreichen Satz eines Arztes im Kopf: Heilungschancen in Prozenten nützen niemandem - ihre Lea ist eine 100!! Und darum geht es hier!!!

Jetzt bin ich aber mittendrin. Auf dem Fliesenboden. Im Begreifen-Wollen, was eigentlich passiert ist. Die fettgedruckten Zeilen der Arztbriefe, die länger sind, als das Leben meines Kindes. Die Aufzählungen der auffälligen Stellen in seinem Körper bei der letzten MRT. Wie eine Irre, versuche ich alles nach Datum zu sortieren.. Ich lese den Namen meiner Tochter oben in der Betreffzeile... ich liege auf dem Fliesenboden des Flurs, vor dem Bürotisch...

Minuten später packe ich alles in eine Tüte, die später in der Mülltonne landen wird. Ich weiß, dass ich von vorne beginnen muss, um überhaupt beim Tod anzukommen. Ich weiß aber auch, dass ich das heute, wie damals nicht mit schwarzen Buchstaben auf weißem Papier machen werde. Sondern mit MEINEM Kind und SEINER Krankheit und MEINEN Erinnerungen daran, wie es war - für UNS - ohne weißes Papier mit schwarzen Diagnosen darauf. 


Fliesenboden im Flur verlassen. Auf dem Sofa sitzend, fange ich an zu schreiben, vom ersten Tag mit dem Krebs. Wann war er denn? Bei uns gab es nicht DEN Tag der Diagnose. Alles kam so schleichend... 


Hallo, Krebs meines Kindes, ich lasse dich herein und will verstehen! Damit der Tod einziehen darf, der um mich herum ist und wartet. 

Von ihm steht nichts geschrieben in schwarzen Buchstaben auf weißem Papier ... in Ärztebriefen...


Fortsetzung folgt...


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