TIEFPUNKT 2.0

Mein geliebtes kostbares Kind!

Bald ist dein erster Geburtstag ohen dich. Bald wird dein Tod ein Jahr her sein. Dein Sterben vor einem Jahr beginnt aber jetzt. MITTENDRIN stecke ich in dem langen Anschiesnehmen, durchlebe jene Zeit nochmal – als ob ich immer noch auf dem blauen Linoleum zusammen gesunkenen am Boden des Zimmers sitzte im Krankenhaus, gerade erst wissend um den verlorenen Kampf. Jeden Tag versuche ich zwanghaft alle geistigen Bilder und echte Fotos des gleichen Datums vom letzten Jahr anzusehen und mich an dein (noch) Lachen und deine (noch) Fröhlichkeit zu klammern. Doch sofort schleichen sich aus meinem Unterbewusstsein alle gespeicherten oder auch verdrängten Gefühle von damals ein. Täglich wiederholt sich dieser Vorgang mehrmals. Es zu unterlassen, würde bedeuten zu vergessen und deshalb kann ich es nicht. MITTENDRIN im Erinnern... 

Ein Erinnern mit dem befreienden Gefühl, endlich angstfrei zu sein und mit der Gewissheit, dass es dir gut geht, wie ich es in den ersten Wochen nach deinem Tod hatte, ist gerade nicht mehr möglich. So blieb mir nicht einmal dieser einziger Trost, der mich bisher am Leben hielt. TIEFPUNKT. Der tiefste. MITTENDRIN bin ich.

Tag für Tag in jedem Aufwachen spüre ich sie für einige Augenblicke ebenso intensiv wie damals - die Angst vor dem anbrechenden Tag, vor dem Sehen bei Tageslicht, das den fortschreitenden Krebs an deinem Körper erst wirklich macht, mein ständiges Herzrasen und Schnappen nach Luft, den qualvollen Schmerz der Ungewissheit und Verantwortung von damals. Wenige Sekunden danach schlägt mir die Gegenwart mit der Faust ins Gesicht und der Schmerz von heute, die Gewissheit, dass zwar all jenes vorbei ist, aber mein Kind nicht mehr bei mir, dringt zu mir durch. Ich bin wach und die Sehnsucht nach deiner kleinen Hand, nach deinem vertrauten süßen Duft im Bett neben mir, lässt mich zwar tiefer einatmen aber dann die Luft anhalten und erstarren. 

Also schließe ich meine Augen, hole mir doch lieber die Bilder von damals hervor... und... bin MITTENDRIN in deinem Sterben.


Und jetzt könnte man dieses Kapitel von vorne lesen – ich bin wieder in meinem Teufelskreis gefangen. Die Vergangenheit schmerzt mich, die Gegenwart ist unerträglich und die Zukunft hat mich gelehrt, dass man auf sie nicht hoffen darf – sie ist ein Verräter. TIEFPUNKT. Der tiefste. MITTENDRIN bin ich.


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