Ich Bin

Ich bin das elfjährige Mädchen, das an einem Novembertag hineingeworfen wurde in ein Klassenzimmer, in dem niemand seine Sprache verstand, die die Muttersprache des Landes ist, in dem gerade der Krieg tobt. Ich bin das Mädchen ohne Deutschkenntnisse, das an vielen Abenden weinte, um nicht mehr in das Klassenzimmer zu müssen und dessen Eltern gelbe, selbstklebende Zettel an Türen in der Sammelunterkunft klebten, auf denen "die Tür" stand, um ihm Türen zu öffnen zu einer besseren Welt, die uns allen Heimat werden sollte.

Ich bin das Mädchen, das ein Jahr später ein "Gut" hinter dem "Deutsch" im Zeugnis stehen hatte.

Ich bin die junge Frau auf dem Foto einer Lokalzeitung, die ein Zeugnis in der Hand hält mit der Bestnote in Deutsch des Jahrgangs im Fachabitur. 

Ich bin die junge Frau, die ein Studium absolvierte im Dienst des Staates, den sie erst nahm und die Aufgabe dahinter und den Eid, den man leistet bei Dienstantritt. Das war doch die Heimat und die gelben Zettel an der Tür?! Alles kämpfen, lernen, leisten hatte sich gelohnt.


Ich bin die junge Mutter, die in der Elternzeit ein Jura-Staatsexamen im Zweitstudium absolvieren will und erfolgreich kurz davor scheitert. - An Glaubenssätzen und Türen. Ihr Kind ist schwer krank geworden. -  Sie wirft  alles über Bord. Wissend um das Wesentliche in Leben muss sie sich eingestehen, wie wenig ihr Leisten ihrem eigentlichen Selbst entspricht. Nur der Annahme, sich noch mehr beweisen zu müssen, sich behaupten zu müssen, weil ihre Sprache nicht die ihrer neuen Heimat war. 


Ich bin die junge Mutter, die alles an Haut und Rollen abgeschält hat, weil ihr Kind gestorben ist. Die, die nicht mehr an das Weltbild von guten Noten, gelben Zetteln und grauen Akten auf einem Bürotisch glauben kann. Die, die angefangen hat zu schreiben, in nicht mehr fremder Sprache, doch heimatlos wie nie zuvor.


...


Ich bin die Mutter von drei Kindern und eines davon ist tot. Ich bin die, die darüber schreibt an ihren Abenden. Ich bin die, die vormittags an keinem Bürotisch sitzt, sondern vor acht Kindern im Morgenkreis, in den sie hineingeworfen wurden.  Aus dem Land, in dem gerade der Krieg tobt. Ich spreche die Sprache ihrer Heimat und singe ihnen deutsche Kinderlieder vor, die ich gelernt habe zu singen mit dem Kind, das nicht mehr da ist. Und sie singen auch.. die Kinderlieder meiner Heimat. 

Und dann sitze ich da und staune, welche Kreise sich schließen und bin manchmal das elfjährige Mädchen ohne Deutschkenntnisse.


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