Wenn Die Blätter Sich Färben

...es war noch Sommer, unser wunderschöner heißer Sommer 2017... und trotzdem wollte sie keine andere Gute-Nach-Geschichte hören, als die von Mama erfundene -  von vom Herbst, der bald kommt und von dem kalten Winter und was dabei mit den Bäumen passiert, wie sie sich verändern, wie es immer früher dunkel und kälter wird, bis schließlich nach dem Christkind wieder der Frühling beginnt...

Ich hielt Leas Hand, wie immer beim Zubettbringen, und erzählte ihr ihre Geschichte immer wieder, wie sie es verlangte, bis sie eingeschlafen war.
Anfang August ertappte ich mich dabei, dass ich bereits beim dritten Satz schrecklich traurig wurde und nichts gegen die Tränen tun konnte, die mich im Erzählen überwältigten. Ein wenig stotternd und mit zittriger Stimme fuhr ich fort...
Wie aus dem Nichts wurde mir bewusst, warum ich diese Geschichte erfunden hatte. Ich war ganz einfach meinem Gefühl gefolgt und hatte es zugelassen, daran zu denken, dass Lea keine weiteren Jahrenzeiten und auch kein Weihnachtsfest mehr erleben wird. Diese verdammten Tränen, die so schwer wie dicke Kristallkugeln, an meinen Wangen herunter rollen und meine Stimme, die versagt... ich muss doch weiter sprechen... bis sie ruhig und zufrieden schläft!
Ich erzähle an diesem Abend einfach weiter, so gut ich kann -  die gleich gewählten Worte, der gleiche Inhalt, derselbe Anfang, dassselbe Ende. Nur die Geschichte ist seit heute Abend nicht mehr dieselbe. Heute Abend und an allen wenigen, die noch folgen, höre ich mich auf einmal etwas ganz anderes sagen: die Jahreszeiten, Weihnachten werden zu einer Zukunft, die es nicht geben wird, zu Fantasie. Jeden Abend soll sie ein Stückchen davon in ihrer  Vorstellung erleben können. Vielleicht träumt sie etwas davon, nimmt ihre Traumbilder mit..  und sie lauscht meinen Worten, saugt jedes einzelne auf, als ob ich ihr das größte Geheimnis der Welt verraten würde.

An diesem einen Abend, bei diesem ersten Mal als die Gute-Nacht-Geschichte auf einmal eine andere wurde, ließ ich mich leiten von meinem Bauch, von meinem Herz, von einer inneren Stimme.
Und dann schob ich es ganz ganz schnell wieder weg -  mein Verstand realisiert das Geschehen: Ich habe tatsächlich gerade meiner kleinen Tochter von den Jahreszeiten und von Weihnachten berichtet, weil ich das Gefühl hatte, es tun zu müssen, damit sie wenigstens auf diese Art etwas davon erleben kann,  sich ihre Bilder dazu ausmalen kann?! Ich will was ersetzten, wiedergutmachen, ihr was mitgeben?!
"Du hast alles richtig gemacht!" - sagt die innere Stimme. "So ein Quatsch! Dazu gibt es überhaupt keinen Grund." - widerspricht der Kopf. Da war sie wieder, die absolut Alles einnehmende Angst, die ich so gut kenne oder doch die leise Vorahnung?
Der Kopf gewinnt..
Zu diesem Zeitpunkt sind alle in der Klinik sehr optimistisch – es sieht gut aus seit drei Monaten, Lea sieht gut aus. Nur ich,  ich die verrückt gewordene Mama, meint es besser zu wissen und verlässt sich auf „Gefühle“. Bei der letzten Untersuchung war alles bestens!
Also drückte ich mir ein Kissen ins Gesicht für das letzte Schluchzen, stand vom Bett auf, machte leise die Tür zu, schaute noch einmal zu Lea, wischte mir die Tränen hastig ab und ging zu meinem Mann in den Garten. Ihm sagte ich nichts - er soll noch ein wenig dem Verstand, dem Schein des "Alles-ist- gerade-gut" vertrauen dürfen.

Zwei Monate später, am letzten Septembertag bringe ich meiner Tochter ein bunt gewordenes Blatt aus diesem Garten an ihr Bettchen. In dem liegt sich nun seit drei Wochen - zum Sterben nach Hause geschickt, von den selben Ärzten, die auch hofften und damals Gutes prophezeiten.

Ich erzähle ihr nochmal unsere Jahreszeitengeschichte und füge lächelnd hinzu, dass sie Recht hatte... als sie bei der Geschichte, meiner Aufzählung der  Blätterfarben, schmunzelnd immer "lila und losa" hinzufügte. Das Blatt war nicht gelb. Es war nicht orange oder rot. Es war auch nicht braun, wie ich es erzählt hatte.
Es schimmerte mich an in lila-Tönen, inmitten des Grüns und des verwelkten Brauns in dem kleinen, verwaisten und ungepflegten Beet vor unserer Terrasse.  Die Pflanzen sehen mitgenommen aus. Der heiße Sommer hat Spuren hinterlassen, um die wir uns dieses Jahr nicht kümmern werden.

Für einen ganz ganz klitzekleinen Moment freue ich mich über dieses lila Blatt - für Lea..
Für Lea, die in ihrem Bettchen liegend, an Schmerzpumpe und Infusionsständer gefesselt, den Herbst aus unserer Gute-Nacht-Geschichte erkannte
...an einem einzigen Blatt
...aus unserem Garten
...das lila geworden ist.

Sie hatte für diesen Augenblick die Kraft aufgebracht, das Blatt in ihre Hand zu nehmen, es fest zu umschließen, sodass es verschwunden war in ihrer Faust, zwischen den Fingerchen. Bejahend, fast mir gut zusprechend schloss sie die Augen um gleich wieder weiter zu schlafen - taumelnd, schwebend zwischen den Welten, da und doch schon weg, fliegend und doch noch da...

Zwei Tage später ist sie gestorben. Nein, nicht für einen klitzekleinen Moment...

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Kommentare: 1
  • #1

    Jana (Montag, 26 September 2022 22:29)

    Es tut mit so so leid!!��