Über Die Tränen

Wenn ich zum Friedhof gehe, habe ich nie Taschentücher dabei. Nicht weil der Weg dahin leichter geworden wäre und ich nicht mehr weinen muss. Das tue ich, immer noch jedesmal - Mal mehr, Mal weniger, Mal laut, Mal leise, Mal völlig verzweifelt, Mal einfach nur wehmütig, Mal mit ein paar wenigen Tränen, Mal mit einem Tränenmeer, in dem ich am liebsten ertrinken würde.


Ich habe nur aufgehört, mir die Tränen wegzuwischen. Ich habe gelernt, sie lieb zu haben. Ich habe gelernt, sie wert zu schätzen. Ich habe gelernt, sie jedes Mal aufs Neue als eine besondere, einzigartige Erfahrung zu erleben. Ich bin der ersten Träne dankbar, welche den angestrengten Augen den entsetzlichen Druck der vielen angestauten Tränen nimmt, in dem sie sich löst und sich ganz langsam, behutsam den Weg sucht über meine Wange. Wie könnte ich sie wegwischen? 


Ich werde ganz ruhig und folge ihrem Weg. Achtsam erspüre ich das Gefühl von Wärme, von Nässe auf meiner Gesichtshaut. Ich ergründe die Langsamkeit, die Geduld mit der sie sich ihren Weg nach unten sucht. Ich fühle alles, was die Träne in mir auslöst und was sie gelöst hat aus meinem Auge, das ihr Heimat war. 

Dann ist ihr Weg zu Ende -scheinbar- für einen Bruchteil eines Augenblicks. Alles steht still. Ich halte inne.. da ist sie wieder - der salzige Geschmack auf meinen Lippen. Sie ist zerflossen an meinem Mund, hat sich nur verändert. Dennoch nehme ich sie wahr - jetzt kann ich sie schmecken...

Schließlich erlebe ich ihre allmähliche Auflösung - der salzige Geschmack verflüchtigt sich. 

Aber auch jetzt ist ihr Weg nicht zu Ende. Ich kann ihn nur nicht mehr mitgehen. Die Träne hat sich vermischt mit der Nässe in meinem Mund. Sie hat eine neue Form angenommen, ist in Etwas eingegangen, dem ich nicht mehr folgen kann. Doch ich weiß um sie.


Sie lässt mich so viel spüren auf ihrem Weg. Wie könnte ich sie wegwischen?!

Sie und alle Tränen, die ihr folgen werden, haben mir so viel zu erzählen auf ihrer Reise. Wie könnte ich sie wegwischen?!

Jede einzelne Träne lehrt mich:  ich bin ein blinder Passagier, in einem Boot, das Leben heißt. Und ich treibe darin auf einem Meer, das so viel weiter und tiefer reicht als das Leben. Wie könnte ich nur eine einzelne wegwischen?!

Die Reise der Träne hat weder in meinem Auge begonnen, noch hat sie an meinen Lippen geendet. Sie erinnert mich an den ewigen Kreislauf allen Seins. Wie könnte ich sie auf ihrer Reise wegwischen?!

Jede meiner Tränen ist kostbar und wertvoll! 

Jede einzelne Träne bist du wert, mein Kind!

Wie könnte ich nur eine einzige wegwischen?!

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