Vom Ausbrechen Wollen - Ans Andere Ende Der Welt

Mein kostbares Kind! Ich bin immer noch zerbrochen nach diesen vielen einsamen Tagen. Ich sehne mich nach Aufbruch oder doch eher nach Ausbruch? Ich habe bisher so viele Aufbrüche gewagt in das neue, nicht willkommene und nicht gewollte Leben ohne dich. Dein Papa und ich sind aufgebrochen ans andere Ende der Welt, auf eine (nicht einsame) Insel kurz nachdem du gegangen bist. Du, aufgebrochen bist, in eine andere Welt. 

Ich bin im salzigen Meerwasser geschwommen und schmeckte das Salz meiner Tränen. Verzweifelte Stunden auf Wellen, die genauso wenig zu fassen waren wie du es bist. Überwältigende Unterwasserwelt lies mich untertauchen, abtauchen, dich in der Tiefe suchen. Manchmal ertrug ich die Schönheit nicht und hielt verzweifelt die Luft an, in der Hoffnung, nicht mehr aufzutauchen. Verzweifelte Schritte im Sand ohne deine Spuren. Muscheln, Steine unter meinen Füßen, die nicht wissen wohin. Mein tränenertrunkener Blick entdeckte eine Glasmurmel. Eine, die ganauso aussah, wie die aus deiner Murmelbahn. Am anderen Ende der Welt... Dort, wo mein erster Umbruch war in das, was jetzt ist. Wir hatten uns auf den Weg gemacht, mit der Karte, die du uns in die Hände gelegt hattest. Ich sprach so frei und offen mit fremden Menschen über dich und über den Tod, mit dem ganz selbstverständlich umgegangen wurde. Ich sprach über mein Glücksgefühl, die Muschel gefunden zu haben, ohne falsches Mitleid befürchten zu müssen oder dass man mich für verrückt hält. Ich fand mich mehr beheimatet als daheim, unter Menschen, die unter einfachsten Verhältnissen, unter nach westlichem Maßstab gemessen, elenden Bedingungen, erfüllt leben, weil sie das Leben mit anderem Maß messen. Ich sog die Glückseligkeit inmitten des Elends und die im Alltag gelebte Spiritualität der Einheimischen in mir auf und begann mich darin wiederzufinden. 

Ich habe mich auf den Weg gemacht zu einem Yogakurs, als wir wieder Zuhause waren. Ich hatte mich auf den Weg gemacht, ein Trauerseminar zu besuchen und bin gefühlt den höchsten Berg bestiegen. Ich hatte mich auf den Weg gemacht, um sterbende Menschen im Pflegeheim zu besuchen. 

Daran denke ich heute und halte die Glasmurmel in der Hand. Ich werde mich wieder auf den Weg machen, gewiss. Aber wohin? Gerade will AUSbrechen - an das andere Ende der Welt. Ausbrechen aus den Banalitäten der hiesigen, die ich nicht aushalte. 

Es fühlt sich richtig an, weil ich hier heimatlos geworden bin. Es fühlt sich falsch an, weil hier dein Zuhause ist. 


Du fehlst.

Jeden Tag. 

Bei jedem Aufbruch des Tages. 

Du fehlst den Glasmurmeln.

Vielleicht werfe ich die eine, eines Tages, zurück ins Meer. 

Nach einem neuen Aufbruch oder nach einem verzweifelten Ausbruch.


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