Tag 1 - Ein Ausschnitt Aus Dem Kapitel Über Die Erste Zeit In Einem Neuen Leben

Am nächsten Morgen wache ich auf und bin total verwundert, geschlafen zu haben. Tief und fest, traumlos und lang. Ein erster Blick nach links – das Bettchen ist leer. Der Anblick ist gerade so erschütterlich traurig, dringt in mich über die Augen und breitet sich im ganzen Körper aus. Ich kann den Schmerz wie eine Flutwelle spüren, die sich in jedem einzelnen Korperteil auftürmt, immer größer, höher und heftiger wird und mit voller Wucht aufprallt, alles überschwemmt, sich wieder zurückzieht um im nächsten Augenblick wieder von vorne zu beginnen. DAS sind Wehen! Die der Geburt kommen mir dagegen absolut lächerlich vor. Wie konnte ich damals überhaupt von Schmerzen sprechen.. DAS sind Schmerzen! 

Und ich kenne sie schon ein wenig - da war die Diagnose, da war der erste Rezediv, da war der zweite, da war Tag, als wir wussten, sie wird nicht überleben. Und jetzt, an diesem Morgen ist mir, als ob mir gerade erst jemand wieder gesagt hätte, dass mein kleines Mädchen Krebs hat, dass die Therapie nicht anschlägt, dass es keine Chance mehr gibt, dass sie sterben wird.  


Ich weiß es doch und muss es dennoch nochmal wissen. Das am Vorabend, bei uns zuhause und dann in der Nacht, in der Klinik war nicht genug Abschied.  Ich war zu müde, mir war zu schlecht, ich hatte zu viele Sorgen um meine Eltern. Ich brauche noch einmal einen bewussten Anblick, noch einen ganz innigen Moment mit meinem toten Mädchen. 

Auf Simons Drängen hin esse ich einen halben Toast und fahre los. In einer Endlosschleife höre ich mir „Nicht mehr da" von Nosliw im Auto an und weine ganz laut, endlich mal richtig richtig laut. Das tut gut und ich fühle mich leichter als ich austeige, an dem Parkplatz, für den wir eine Dauerparkkarte hatten. Nocheinmal gehe ich denselben Weg zur Eingangstür, meine Arme sind so leer. Ich weiß überhaupt nicht mehr, wie ich sie bewegen, halten soll - als ob sie mir erst gerade gewachsen wären, sind sie mir vollkommen fremd ohne mein Kind darin. Ich gehe durch die sich automatisch öffnende Tür...  durch die sind wir zu dritt tausende Male herein und heraus gegangen, durch-gegangen sind wir tausend verschiedene Facetten vom Leben. Zum ersten Mal gehe ich nun hindurch ohne Hoffnung, ohne Angst, ohne Bangen, ohne Wünschen, ohne Beten, ohne Warten, ohne Erwartung, ohne Kampf, ohne Widerstand, ohne mein Kind... ohne mehr hierher zu gehören - wie ich es hasste, zu dieser Kinderonkologie Station dazu zu gehören! Jetzt sehne ich mich so sehr danach, nach diesem Stockwerk voller kahlköpfiger Helden mit meiner Lea mittendrin. Ich sehne mich nach dem Geruch von Desinfektionsmittel auf dem langen Gang der Station, nach dem Geruch von Hoffnung.. auf diesem langen Gang..

Heute muss ich da nicht hin - heute darf ich da nicht hin. Noch nicht Mal da gehören wir dazu. Ich fahre nicht mit dem Aufzug hoch. Ich nehme die Treppe und gehe hinunter, zum Abschiedsraum der Kinderklinik.


Kurz bevor ich mich auf den Weg gemacht hatte, schrieb ich meiner besten Freundin und Leas Patin. Ich weiß, dass die beiden, wie auch meine Tante und meine Eltern kommen werden und das wünsche ich mir heute auf einmal auch. Mir ist danach zu weinen und dabei nicht alleine zu sein. Mir ist danach, dabei zu sein, während andere geliebte Menschen um Lea weinen.

Rückblickend kann ich sagen, dass es schrecklich wäre, hätte ich an diesem Tag nur irgendetwas davon anders gemacht.

Ich sah mein Mädchen noch einmal, dass nun so anders war. Ich sah Menschen, die um sie herum stehen, die den Mut und den Willen hatten, bei ihr zu sein. Ich sah die Liebe. Ich sah die Trauer. Ich sah den Schmerz - den, der anderen. 

Wir konnten zusammen und jeder für sich zu ihr sprechen , während wir noch ein letztes Mal ihr Gesicht vor Augen hatten. Noch ein aller letztes Mal auf diese vertraute Weise...  mit ihr reden, weinen, ihr etwas vorsingen. Ihr Lächeln, das auf einmal da ist, verewigt, versteinert in den trockenen Lippen, bewundern. Ich erfreue mich noch ein letztes Mal an ihrem Anblick, der mich beruhigt, weil sie so entspannt und zufrieden aussieht und gleichzeitig das, was "sie ist" nicht mehr darin zu finden ist. Auch das beruhigt mich, bestätigt mein Fühlen, vergewissert. JETZT kann ich hier weg gehen. Die Türe von dem seltsamen Raum im Klinikkeller schließen. Den Körper meiner Tochter zurück lassen, los lassen, frei geben.


Ich habe etwas nachgeholt, was mir noch gefehlt hatte am Abend zuvor - was auch immer es war. 


Ein winziges Stück Frieden nehme ich mit. Und meine Freundin, um wieder den Weg durch das Klinikgelände zu bestreiten. Zurück durch die große Eingangstür, die sich für immer für mich schließt. Vorbei an der Angst und an der Hoffnung, die mir aus den Fenstern, an denen ich viele Stunden meines Lebens gestanden hatte, winken. Vorbei an den Bänken unter den alten Bäumen, die so viel von meinem Klagen, Flehen und Beten in ihren Wipfeln tragen. Vorbei an den Krähen, die darin ihre Nester bauen, ensetzlich laut sind und die ich für ein schlechtes Omen hielt - so unmittelbar vor einem Kinderkrebszentrum. Jetzt muss ich kurz schmunzeln im VORBEI - Gehen. Vorbei an dem Gehweg, auf dem Lea nach jeder Entlassung wie neu geboren die Welt entdeckte - die frische Luft, die Geräusche, die Bäume, die Vögel, die Blümchen am Wegrand, die Pfützen, die Stöcke, die Sonne, den Regen.. die Welt... Die Welt außerhalb der Klinikwände. 

Vorbei , auch jetzt an Pfützen, die beim Betrachten etwas spiegeln, das ich nicht erkennen kann. "Nie! Nie mehr wirst du hier umher laufen müssen!!"  höre ich meine liebe Freundin sagen. Sie hat Recht - das ist tröstlich und so bitter zu gleich. 


Ich spanne den Regenschirm ein. Steige ins Auto. Schaue in den Rückspiegel zu dem leeren Kindersitz. Das sind sie wieder - die Wehen. Die gleichen, die ich am Morgen vor dem leeren Bett durchlitten hatte. Die gleichen, die ich noch so oft durchleiden werde - beim leeren Hochstuhl am Esstisch, beim leeren Sandkasten, bei der leeren Schaukel am Spielplatz, bei der leeren Rutsche im Garten, bei dem leeren rosa Töpfchen im Bad, bei dem leeren gelben Tritthocker im Wohnzimmer, bei der leeren Bank im Flur... Bei all dem leeren. Bei all der Leere, die sich überall ausbreiten und in jede Ecke unseres Zuhause kriechen wird. 


Aber das weiß ich jetzt zum Glück noch nicht.

Jetzt, hat erstmal der Regen aufgehört und ein kleiner Sonnenstrahl lacht mich an, als ich zuhause ankomme. 

Hat auch der Himmel gerade aufgehört mitzuweinen und sie?! Lacht sie mich an?! -  Jetzt, wo die aller schwersten Tränen erst einmal geflossen sind. Jetzt, wo ihr Körper gerade den traurigen und trostlosen Abschiedsraum verlassen hat, während ich vor unserem Fenster zuhause stehe?!


Ich versuche kleine Zeichen zu sehen und zu deuten, meine Suche beginnt.. und lächle die Wolken an, bis sie sich schließlich verziehen. 

Es wird ein wunderbar sonniger Tag. Mein Mann und ich gehen in der noch sehr warmen Oktobersonne umher - am Friedhof . Wir suchen einen schönen, passenden, stimmigen Platz, der irgendwie zu unserer Geschichte passt, der etwas zu erzählen hat... und noch LEER ist. 

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