Der Tod Im Oktober Und Davor - Ein Ausschnitt Aus Dem Kapitel Über Die Erste Zeit In Einem Neuen Leben

„Drei Tage später konntest du nicht mehr gehen“ - ein Satz, gesprochen, AUSgesprochen von meinem Mann während der Trauerrede, die er für seine Tochter schrieb und die Kraft und den Mut hatte, sie auch zu halten. 


In einem der Briefe, die wir in der Folgezeit bekamen, entdecke ich diesen Satz fett unterstrichen und farbig hervorgehoben wieder. Dieser Satz habe sich  in ihr Herz gebrannt haben und und wird sie unendlich für immer schmerzen, schreibt sie.


Das berührt mich ganz arg. Jemand hat verstanden und teilt mit mir, das, was ich gerade auch empfinde, Ende Oktober, fast einen Monat nach dem Tod meiner Tochter, fast drei Wochen nach dem letzten Abschied, bei dem dieser Satz in der Ausseegnungshalle in die Herzen vieler Menschen gedrungen ist. Genau zu dieser Zeit schrieb ich an mein geliebtes Kind:



"Der erste Monat ist nun fast vorbei. Der Oktober. Der Monat deines Todes. 

Der Monat deines Todes?

Der Monat deines letzten Todes. Es gab so viele Tode davor. So viele Tode musstest du streben vor diesem letzten im Oktober. Und jeden einzelnen bin ich mitgestorben. Manchmal, wenn ich an unsere letzten gemeinsamen Wochen denke, scheint mir, dass dieser letzte Tod, der Tod des Atmens, nicht der schlimmste zu sein."


"Und drei Tage später konntest du nicht mehr gehen" - das war einer der Tode, der Tod des Gehen-Könnens. Den Schmerz, die Verfasserin des Briefes beschreibt, gilt diesem Tod. Er war einer der ersten und hat nicht heilbare Narben hinterlassen. Da ist das Bild von meinem Kind, dass seit Tagen liegt und zu klein ist, um mir zu erzählen, wie es sich anfühlt, seine Beine nicht mehr bewegen zu können. Da ist mein Kind, dessen Beinchen ich verzweifelt aufstelle, um zu sehen, ob es diese doch noch angewinkelt halten kann. Da ist mein Kind Kind, dass all das ohne zu klagen hin nimmt, während noch eine Chemo gerade im Körper wieder aufs Neue ihre Vernichtungskraft übt, während die Haut glüht und der Juckreiz qualvoll trotz Cortison nicht aufhören will, während auch noch der Darm streikt, weil ihm die Bewegung fehlt. 

Da ist meine kleine Tochter, die in einem Augenblick doch nicht hinnehmen will. Die dem, was ihr aufgebürdet wird, trotzt. In der sich noch ein letztes Mal die Hoffnung auftürmt, es wurde wieder gut werden. Die von mir aus dem Bett gehoben wird aber sich wehrt gehalten zu werden und weinend ruft "alleine! alleine stehen!".... Um nur in der nächsten Sekunde völlig erschöft, schreiend , mit zitternden Beinen in sich zusammen zu sinken auf den hässlichen Lenoliumboden des Klinikzimmers. Ich halte sie an den Armen und ziehe sich zu mir hoch. Ich kann ihr ihre bodenlose Verzweiflung, ihr Entsetzen, ihre ungeheuerliche Enttäuschung nicht abnehmen. Ich sterbe gerade mit ihr. Den Tod des Gehen-Könnens. 


Nie mehr fragt sie danach, nie mehr versucht sie es. Das Gehen ist gestorben.


Nachdem kommen noch so viele Tode. Der Tod des Sitzen-Könnens. Der Tod des Malen, der Tod des Puzzles, der Tod der Kinderlieder, der Tod der Bücher, der Tod des Sprechen-Könnens.


Und dann kommen noch so viele Tode, die selbst die vorhergegangen überschatten - der Tod des Laut-Weinen-Könnens, der Tod des aufrecht-gehalten-werden-wollens, der  Tod der Berührung, weil selbst die zärtlichsten schon zu sehr schmerzen... während jemand trotzdem einen Verbandswechsel durchführen muss... und ich zuschauen, wie ganz ganz langsam eine einzige Träne, ganz still und leise deine Wange entlang rollt, ohne einen Ton, ohne ein Zucken, mit deinem Blick, der mich wieder einen der schlimmstes Tode sterben lässt. 



Der Tod im Oktober, der Tod des Atmen-Könnens war einer... 

Einer, der der einzige war, den ich irgendwann einmal werde annehmen können. Denn er war ein Tod, der auch eine Geburt war - in etwas anderes, in ein anderes Dasein - von ihr und von mir. Er war der einzige, der sich wird wandeln können, der eine Mauer ist, die uns trennt und doch mit einem verborgenen Tor, mit der Ahnung von einem Schlüssel dazu. Mit der Ahnung, die sie in dem Sterben von diesem letzen Tod, hinterlassen hat. Mit der Ahnung, die mich den ersten Monat, den ersten Oktober überleben lässt. Mit der Ahnung, dass der Tod des Atmens einmal eine Narbe sein wird .

Die anderen Tode, all die vielen anderen, bleiben für ewig Wunden, bleiben eingebrannt, bleiben offen, bleiben nicht heilbar. Da wird es keine Narben geben.. Da wird stets etwas weiter bluten, genauso wie es am Tag des jeweiligen Todes zum bluten begann. 



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Kommentare: 1
  • #1

    Julia (Samstag, 16 Oktober 2021 21:48)