Les Miserables - Die Elenden. Ein Ausschnitt Aus Dem Leben Davor

"Ich hab geträumt vor langer Zeit
von einem Leben, das sich lohnte
von Liebe und Unsterblichkeit
vom lieben Gott, der mich verschonte
doch die Tiger in der Nacht, sie zerstörten meinen Traum"

- aus Les Miserables von V. Hugo - Simons und mein Lieblingsbuch und Musical, beides steht ganz im Zeichen des Beginns unserer Liebe.

Zu dritt haben wir das Lied zum ersten Mal gehört, fast schon am Ende unseres Zu-dritt-Seins. Dafür aber in Dauerschleife, weil das Lied Lea seltsamerweise so wahnsinnig gut gefiel - nun wirklich kein Kinderlied, kein Video dazu, nur dieses traurige Mädchen vom CD-Cover - stundenlang auf dem Bildschirm zu sehen, an dem Sonntag, an diesem letzten Sonntag zuhause, am 20. August 2017, bevor wir das letzte Mal ins Krankenhaus fahren sollten. Der letzte Sonntag. Das letzte Wochenende -stimmt nicht ganz- das letzte mit einer kranken Lea. Es werden noch drei folgen, die wir zuhause verbringen - mit einer sterbenden Lea. 


Wir weinen.. fürchterlich..  alle drei... Zusammen und abwechselnd für sich, obwohl doch nichts weiter Schlimmeres passiert war. Wir wollen in die Klinik für eine zusätzliche Chemotherapie am Montag, auf unseren Wunsch hin, eher so vorsichtshalber. Und um endlich etwas gegen den Juckreiz zu tun, der sie seit Tagen immer mehr quält und mich immer ratloser macht. Alles, was wir haben, alles was wir als Eltern dürfen, ist ausgeschöpft :  viel Cremen, nochmal mehr und nochmal, obwohl jede Berührung unangenehm ist,  „Jucktropfen“ - wie Lea sie nannte, für die Nacht. An diesem Wochenende, am Freitag in viiiiel höherer Dosis. Nachts höre ich trotzdem ein verweintes herzzerreißendes "Luckt-Luckt"( juckt – juckt). Immer wieder... Und wieder.. und wieder..  und dazwischen "Mama tascha", was Mama streicheln heißt. Ich bin so hilflos und wünsche mir nichts lieber, als in der Klinik zu sein. Wie makaber?!!

Sie bekommt zum ersten und letzten Mal ein ganz starkes Antiallergikum. Es hilft. Aber am Morgen ist sie total benommen davon und das macht ihr und uns noch mehr Angst. Sie kennt diesen Zustand nicht. Ist total verunsichert, im Gehen, im Sprechen.  Ich verfluche derweil alle "Heilmittel" - NICHTS hat Wirkungen ohne NEBENWirkungen und abzuwägen, was weniger tragisch ist, ist verdammt schwer und verdammt nochmal nicht das, was ich entscheiden sollte. Ich will in die Klinik! Wie makaber?!

Der Samstag Vormittag verlief ähnlich schrecklich bis Lea endlich Kortison bekam. Mein Mann durfte es einfach schnell auf der onkologischen Station der Kinderklinik holen. Der Juckreiz hörte etwas auf und wir hatten einen wunderbaren Samstag Nachmittag und Abend. Aber ich spürte, dass da mehr ist, dass zu dem Juckreiz noch was anderes hinzugekommen ist, was sie uns nicht sagen kann.

Es kam der besagte Sonntag. Lea ist am Morgen eine Zeit lang komplett untröstlich und ich.? Ich muss eincremen. Sie steht vor mir - mein Häufchen Glück. Mein Häufchen Elend in einer Windel mit einem Hickmann-katheter, dessen Schlauch ihre Brust durchbohrt. An das Loch in ihrer Brust habe ich mich schon lange gewöhnt. An das in meiner immer noch nicht. Gerade wird es riesengroß - sie schreit, ich soll aufhören. Ich schreie leeren Blickes in den Raum zurück "sie stirbt". Mein Mann schreit "so ein Blödsinn!"... Ich nehme sie in den Arm. Er uns beide. Alles ist voller Creme. Alle drei sind wir ein Häufchen Elend. Alle drei sind wir ein Häufchen Glück.. weil wir DREI sind.

Ich schreie wieder in den Raum, ganz stumm, wieder leeren Blickes - ich habe es mir eingestanden. Habe es hinaus geschrien. Das, was noch keiner weiß. Das, was ich seit dem Vortag so intensiv spüre. Das, was meine Vorahnung der letzten Tage war. Das, was niemand hören will. Das, was sie mir zeigte, aber nicht sagen konnte. Das(s) sie sterben wird... Dass der eigentlich freiwillig geplante Krankenhausaufenthalt dringend notwendig ist und dabei die Probleme mit der Haut unsere kleinste Sorge sein werden.


Jetzt bin ICH untröstlich, obwohl das Kind in meinem Arm wieder entspannt und ruhig ist. Beide sind wir total erschöpft. Sie vom Weinen, ich von meinem Eingeständnis. Sie mag ins Bett, kuscheln. ICH bin erleichtert, weil ich nichts anderes gerade schaffe. Ich bin noch untröstlicher, weil ich weiß, dass SIE nichts anderes gerade schafft.

Untröstlich bleibend singe ich „Funke-funke-kleiner-Stern...“ und sie schläft ein, bereits am frühen Vormittag. Ich höre mich das Lied weiter singen. In meinem Ohr erklingt der Text, hallt nach, klingt anders, bekommt eine ganz andere Bedeutung - „..oh wie bist du mir so fern.."
Ich schluchze. Schreien kann ich gerade nicht, weil das Häufchen Glück schläft. Ich halte mir eine Hand vor den Mund, um nicht versehentlich doch zu schreien. Die andere wandert zu meinem Herz, das viel zu stark pocht. So stark, dass ich aus einem Impuls hinaus meine, es halten zu müssen. Untröstlich... Untröstlicher.. pocht es wild weiter. Ich schlafe trotzdem ein, untröstlich,  neben meinem getrösteten Kind. Ineinander verschlungen sind wir ein Häufchen. Ein Häufchen Elend.


Wir wachen auf. Ich erfasse mein vorheriges Eingeständnis wieder, das mir  die Kraft nahm und den Schlaf bescherte. Lea bestätigt es: sie will auch jetzt im Bett bleiben und ich soll es auch. Ich weiß, sie kann es nicht verlassen. Ich bleibe ungetröstet, mein Eingeständnis wird zur Erkenntniss...  untröstlich.. hören wir Kinderlieder.

Es wird immer trauriger um uns und in uns.  Ich werde mir immer sicherer in meiner Erkenntnis, ich werde immer ein Stück untröstlicher, und dann nimmt mich eine Traurigkeit ein, die ich nie davor kannte und auch nie danach erfahren werde. Unglaublich, dass ich das zu einem Tag, zu einem Ereigenis sagen kann, der noch Wochen vor ihrem Tod liegt..
Ich beschließe, warum auch immer, das besagte Lied einzuschalten - das, aus Les Miserables, das mit dem traurigen Mädchen auf dem CD-Cover, das eine, was meinen Mann und mich damals eine vorher nicht gekannte Verbundenheit und Liebe erkennen ließ...


Lea hört es zum ersten Mal und will es immer und immer wieder hören. Sie betrachtet dieses traurige Angesicht des Mädchens gefühlte Stunden, auf dem Display meines Handys.  Ich fange an zu weinen, ich schreie sogar kurz, nicht mehr stumm. Sie blickt zu mir, ohne zu erschrecken, ihr trauriger Blick wandert wieder zu dem traurigen Mädchen. Mein Blick wandert zu meinem traurigen Mädchen..


Ich wusste es, Lea wusste es. Lea wusste, dass ich es nun weiß - mein Eingeständnis.  Mann Mann hört die Musik aus dem Schlafzimmer, kommt dazu. Sein Blick wandert von Lea zu dem traurigen Mädchen auf dem Cover und dann zu mir: jetzt weiß er es auch...untröstlich... Sind wir nun zusammen, ein Häufchen Elend, ein Häufchen Glück zu dritt. Das war der traurigste Augenblick meines Lebens.
Unglaublich, dass ich das zu einem Tag, zu einem Ereigenis sagen kann, der noch Wochen vor ihrem Tod liegt..

Die Musik, der Text und Lea, die auf Einmal so anders ist, so groß und reif, die alles zu verstehen scheint und uns zutiefst berührt mit ihrer eigenen Traurigkeit.


"Sie wird gehen müssen" - Wie klar wir das für diese Minuten sahen und zu dritt untröstlich waren – zu dritt ein Häufchen Elend. Ein Häufchen Glück, weil zu dritt.

Unglaublich, dass wir an diesem Sonntag zusammen MIT unserer Tochter, UM unsere Tochter trauerten. Zusammen, um die brutal gestohlene Zukunft trauerten. Zusammen die gemeinsame Vergangenheit betrauerten. Zusammen waren wir ein Häufchen Glück, weil zu dritt. Zusammen waren wir ein Häufchen Elend. Zu dritt waren wir die Elenden - Les Miserables.

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