DURCHgehen. Den Krebs. Die Hölle. Den Tolstoi

Da bin ich nun also, zuhause mit dem Krebs meiner Tochter ganz alleine. Ihren Tod habe ich gebeten, wieder vor die Türe zu gehen und ein wenig zu warten. Das tut er, klopft aber ständig an die Fensterscheiben.

Ich gehe nochmal durch. Durch... die Hölle.

Ohne Arztbriefe und ohne Google, der mir den Inhalt derselben erklären soll - Begriffe rund um das extrem selten vorkommende Maligne Melanom im Kindesalter.

Ich gehe nochmal durch die Hölle.
Mit dem Tod am Fenster und meinem Kind irgendwo in mir,  und mit dem Krebs, der mein Gegenüber ist.

Ich gehe nochmal durch, die Hölle.
Ohne atemraubende Angst im Gepäck, denn der Tod war schon da und ist und klopft am Fenster.

Ich gehe nochmal durch...

die Tür der Kinderklinik
den Wartebereich der Radiologie
den Gesichtsausdruck des Radiologen
den gebrochenen Willen meiner Tochter in dem Untersuchungsmarathon
die entsetzliche Ohnmacht in mir, sie nicht davor bewahren zu können
den unterirdischen Gang von der Kinderklinik zum Kinderkrebszentrum
den flehenden Blick meines Kindes, es möge aufhören und
den Ernst der Lage erkennenden Blick der diensthabende Onkologin
die mitfühlendenen, ersten Sätze der Psychologin im Aufzug
die Gitterstäbe des hässlichen Klinikbettes, in dem mein Kind seinen Mittagsschlaf hält, ohne dass ich daneben liegen kann
die Namen von ständig neu dazu kommenden Ärzten und Schwestern, die ich nicht kennen will
die Gesichter der erschöpften, kahlköpfigen Kinder auf dem Flur
die weichen, blonden Haare meines erschöpften Kindes in "seinem" Zimmer, das wir nicht gebucht hatten...

Ich muss doch wieder googeln. Nein, weiterhin keine Begriffe der drei Zeilen langen Diagnose. Die Klinik, die Ärzte, den Hospizdienst... Bilder, Namen, Fotos tauchen auf dem Bildschirm auf und sind mir vertrauter als alles, was ich gerade aus dem Fenster sehe. Menschen, die ich nie kennen wollte, fühle ich mich verbundener als den meisten um mich herum. Wie sollte ich auch nicht - uns verbindet die bedeutsamste Zeit meines Lebens, der Kampf um das Leben meiner Tochter. Sie alle WISSEN um mich, um uns, um sie, um meine Tränen, um meine Schreie, um meine Wutausbrüche, um meine Zusammenbrüche, um ihre Tränen, um ihr Gebrochensein. Die Fotos von so vielen Orten, Zimmern, aus denen mir mein Kind mit dem Infusionständer entgegen kommt.  Ich kann den Duft dieser Räume wahrnehmen...
Ich sehne mich nach dieser Hölle und nach dem Geruch. Es riecht nach Erbrochenem, nach salzigem Geschmack von Tränen, nach ängstlichen Schweißausbrüchen, nach Fertigessen. Aber das Desinfektionsmittel riecht nach Hoffnung...

Ich weiß, mein DURCHgehen ist gut - ich schließe gerade Freundschaft mit dem Krebs meiner Tochter und lasse ihren Tod einfach Mal weiter am Fenster klopfen.

Und dann spricht auf dem Bildschirm ein Text zu mir - zitiert von "unserem" Chefarzt, bei einem Vortrag zum Thema "Palliativversorgung bei Kindern" ... Den gehe ich DURCH.. Mehrmals.. Oft... Immer wieder...
Er begleitete mich in den folgenden Tagen, Wochen und Monaten. Er begleitete mich, als ich den zweiten Tag mit dem Krebs durchgehe, den 20., den 222, und den zweitletzten. Er begleitete mich, als ich das Fenster aufmachte, um den Tod herein zu lassen... DURCH den ich jeden Tag gehe.

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