Erster Abschied

Deine letzen Schritte gegangen. Heute vor sechs Jahren, vom Schlafzimmerbett bis zur Garderobe, um Schuhe anzuziehen. Du wolltest ins Krankenhaus, weil "Mama kann ni helfe". 


Ich konnte dir nicht helfen und dein Schmerz, den du nicht mehr ertragen musst, ist immernoch meiner.


Dieser Sonntag ist eingebrannt auf meiner Haut, weil deine so feuerrot glühte. Du warst am Morgen komplett untröstlich. 

Und ich? Ich musste eincremen. Ich sehe es heute bildlich vor Augen, wenn ich mir über die Haut streiche, wie du vor mir stehst - mein Häufchen Glück. Mein Häufchen Elend, in einer Windel mit einem Hickmann-katheter, dessen Schlauch deine Brust durchbohrt. An das Loch in deiner Brust hatte ich mich schon lange gewöhnt. An das in meiner immer noch nicht. In diesem Augenblick wurde es riesengroß - du schreist, ich soll aufhören. Ich schreie leeren Blickes in den Raum zurück "sie stirbt". Dein Papa schreit "so ein Blödsinn!"... 


Ich nehme dich in den Arm. Dein Papa uns beide. Alles ist voller Creme. Alle drei sind wir ein Häufchen Elend. Alle drei sind wir ein Häufchen Glück.. weil wir DREI sind. 

Ich schreie wieder in den Raum, ganz stumm, wieder leeren Blickes - ich habe es mir eingestanden. Habe es hinaus geschrien. Das, was noch keiner weiß. Das, was ich seit dem Vortag so intensiv spüre. Das, was meine Vorahnung der letzten Tage war. Das, was niemand hören will. Das, was du mir zeigtest, aber nicht sagen konntest. Das.. dass du sterben wirst. Dass der eigentlich freiwillig geplante Krankenhausaufenthalt dringend notwendig ist und dabei die Probleme mit der Haut unsere kleinste Sorge sein werden. 


Nun war ICH untröstlich, obwohl du in meinem Arm wieder entspannt und ruhig geworden bist. Beide waren wir total erschöpft. Du vom Weinen, ich von meinem Eingeständnis. Du wolltest ins Bett, kuscheln. Ich war erleichtert, weil ich nichts anderes geschafft hätte. Ich wurde noch untröstlicher, weil ich wusste, dass DU nichts anderes schaffst.


Am Nachmittag bist du deine letzten Schritte gegangen... 

Vom Bett.. 

durch den Flur.. 

bis zu deinen Schuhen. 

Freiwillig. 

Um in die Klinik zu fahren. 


Heute sehe ich es vor mir als wäre es geradeeben passiert - für immer eingebrannt auf meiner Haut 



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