Von Bäumen Und Astronauten

Wir wollten ein passendes Plätzchen finden, als wir, mein Mann und ich, Anfang Oktober das erste Mal durch den urigen alten Friedhof schlenderten -  umher liefen, wie auf einem anderen Platenet. Vielleicht fühlen sich Astronauten ähnlich, wenn sie die Erde verlassen. Ich schwankte immer hin und her, ob ich nach einem Plätzchen für die Urne, nach einem für meine Tochter oder für uns drei suchte. Wir werden dort viel Zeit verbringen. Wird sie aber aber auch irgendwie dabei sein? Muss es mir ein Trostort werden? Muss es ihr gefallen? Ich hielt Ausschau nach irgendwas, das uns mit diesem fremden Ort, an dem ich nie sein wollte, den ich mir nicht als Ausflugsziel ausgesucht hatte, verbindet. Irgendetwas, das Bezug herstellen kann zwischen Erinnerungen aus einem Leben, das es nicht mehr gibt, zu solchen, die wir erst erschaffen werden in einem neuen Leben, in einem anderen Dasein. 

Als wir einen Tag später von einem Angestellten des Friedhofs eine freie Stelle für die gewünschte Baumbestattung gezeigt bekammen, fühlten wir, den richtigen Ort gefunden zu haben. 


Nun ist Dezember und ich stehe an diesem, immer noch fremden Ort, zum wiederholten Male. Jetzt weiß ich aber, dass dieses Plätzchen uns gefunden hatte, nicht umgekehrt. Und manchmal fühlt es sich so an, als ob es schon lange lange lange Zeit vorher ausgesucht worden ist. Lange lange lange Zeit... bevor mein Mann und ich danach suchen mussten. 

Ein wunderschöner, ganz alter Baum, vom weichen Moos umschlungen, den man streicheln kann - so wie wir manchmal im Wald zusammen die Bäume berührten, meine und eine zarte, kleine Kinderhand mit den langen, feinen Fingerchen. Die Rinde rau und hart, das Moos kuschelig und weich – staunte sie und fuhr mit ihren Händchen über den Baumstamm hin und her, zwischen den weichen und rauen Stellen und kicherte dabei. Genauso werde ich es machen können, wenn ich an ihrem Grab stehe. Meine Hand wird rau und weich berühren. Rau, hart und weich wird ihr Tod, der mein neues Leben ist, sein. 

Um „Leas Baum“ ist viel Platz auf der kleinen Wiese. Dort werden im Frühjahr Wiesenblumen blühen, die Lea am liebsten für mich pflückte und von jedem Spielplatzbesuch voller Stolz mitbrachte. Genauso werde ich es machen können. Lila Krokusse und dann weiße Gänseblümchen in einer heiligen Langsamkeit dort vom Erdboden abtrennen für die kleine Vase am Grabstein.

Vor dem Baum und dem kleinen Grabstein  ist eine Hecke, die den Platz von den Reihengräbern abtrennt, die mir für mein kleines Kind noch grausamer scheinen als sein Tod.  Da sehe ich mich in der Erde graben vor einem Kreuz, an einem Platz, der weder ihrer, noch der ihrer Asche, noch meiner ist. 

Rechts am Rand der kleinen Wiese, wo der Weg ruhig aufhört, wächst eine Tanne, die ich zu Weihnachten mit bunten Kugeln und mit viel Licht schmücken kann. Nein, nicht weil Weihnachten mir irgendetwas noch bedeutet. Es wird keines mehr geben, das wir feiern. Aber ich kann hier, an diesem letzten Ort, der unsere zwei Leben verbindet, mein letztes Versprechen halten an mein Kind. Das, aus unserer Jahreszeiten-Gute-Nacht-Geschichte, die ich unaufhörlich erzählen musste. Die, die mit dem Winter und dem Weihnachtsmarkt, dem Weihnachtsbaum, der Krippe und dem Beisammensein beim Essen, mit den Lichtern überall und den Geschenken endete. Die Geschichte, die sie nicht mehr erleben durfte. Die, die immer nur eine Geschichte bleiben wird und in meinem Kopf dumpf nachhallt und gleichzeitig als einzig wahnehmbarer Ton erklingt -  wie die eigene Stimme unter Wasser. Vielleicht hört man in einem Astronautenanzug auch so? 


Nun stehe ich also im Dezember da, auf diesem Plätzchen. Ich denke daran, wie ich am Weihnachtsmarkt ein paar ganz besonders schöne Kugeln aussuchen werde, die die Tanne rechts neben mir zu unserem Weihnachtsbaum machen werden, der nicht der aus meiner Geschichte ist.

Ich betrachtete den alten Baum vor mir und denke an die Bäume im Wald, die einen unsichtbaren Handabdruck meiner Tochter tragen. Bin Austronaut, der gerade die Erde verlässt. Ich berühre den Baum vor mir, spüre rau, weich, hart und denke an unser erste Begegnung im Oktober. Bin Astronaut,   der wieder auf der Erde gelandet ist, die ihm nach langer Zeit im Weltall, nach den Erfahrungen auf anderen Planeten, völlig  fremd vorkommt. 

Ein gutes Plätzchen.. für Astronauten... zum Abheben, zum Landen.


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